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Zentralverband des Deutschen Handwerks

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BEDARFSORIENTIERTE MITARBEITERFÜHRUNG:
KÖDER IM FRISEURSALON
ANETT VOLLBORTH

Anett Vollborth ist schon von Weitem zu hören, bevor sie leibhaftig in ihrem
Salon auftaucht. Die 54 Jahre alte Chefin des Salons Anett wirbelt von der
Bahnhofstraße in ihre Ladenräume im Stadtzentrum von Nordhausen.
Sie begrüßt die zwei Kundinnen, die gerade da sind, dann ihre Mitarbeiterin
und die zwei Auszubildenden. Und dann hat sie Zeit für ein Gespräch.

Vollborth, wache Augen, dunkle Hochsteckfrisur, ist seit
Anfangder 1980er-Jahre Friseurin und seit 1990
Friseurmeisterin. Seit über einem Vierteljahrhundert arbeitet
sie erfolgreich selbstständig in der thüringischen Kreisstadt
Nordhausen und in den umliegenden Orten. Ihren Beruf
gelernt hat Anett Vollborth noch zu DDR-Zeiten in einer
Produktionsgenossenschaft des Handwerks, Meisterin
wurde sie dann schon in einer GmbH.

„Ich habe im Osten angefangen und bin im Westen wieder
rausgekommen“, erzählt sie über diese Zeit und lacht wieder
laut. Ihren ersten Salon eröffnete sie im Haus ihrer Eltern.
„Eine Mitarbeiterin, ein Lehrling, fünf Bedienplätze auf
25 Quadratmetern – keine Ahnung, wie wir da alle
reingepasst haben“, erinnert sie sich. Heute hat der Salon
Anett sechs Standorte, jede Menge treue Kunden und – dies
vor allem – zufriedene Mitarbeiterinnen.

Die unruhigen 1990er-Jahre sollte im Blick behalten, wer
verstehen möchte, was das Besondere an dieser gut
gelaunten Thüringerin ist. Anett Vollborth hat von Anfang an
gelernt, Veränderungen zu akzeptieren und etwas Gutes für
die Zukunft daraus zu machen. „Wenn mein Leben mir
Zitronen gibt, mache ich Limonade draus“, ist ihr Motto.


Für ihr innovatives Fachkräftemanagement, ihre Kreativität
als Geschäftsfrau und für ihr Engagement für den
Friseurnachwuchs wurde ihr 2018 der „Zukunftspreis“ der
Erfurter Handwerkskammer verliehen.

Die Arbeitszeiten werden in ihrem Betrieb mithilfe
eines Baukastenprinzips organisiert. Die Mitarbeiterinnen
dürfen sich ihren Einsatzort und die damit verbundenen
Arbeitszeiten aussuchen. Manche können wegen der Familie
nur vormittags arbeiten, andere wegen ihrer Ausbildung nur
nachmittags. Wieder andere wollen lieber Springer-Schichten
machen. Möglich macht das Vollborths bedarfsorientierte
Personalplanung, die sie mithilfe einer Coachin entwickelt
hat.

„Die Arbeit muss zum Leben passen“, sagt Anett Vollborth
im Brustton der Überzeugung. „Das sind Handwerkerinnen,
gute Fachkräfte, auf die wir nicht mehr verzichten können.“
Sie nennt das bedarfsorientierte Mitarbeiterführung und
meint damit, dass sie niemanden verbiegen will, sondern
lieber schaut, wo sich der einzelne Mensch optimal entfalten
kann.


„Fragen Sie mich nicht, woher ich das kann – ich
kann es einfach.“ In ihren Salons in den umliegenden
Pflegeheimen zum Beispiel wird nur montags
bis freitags jeweils bis zur Mittagszeit gearbeitet. Die
Senioren dort sind verlässlich und sehr froh, auf ver-
traute Gesichter zu treffen. Weil sie häufig körperlich
eingeschränkt sind, arbeiten in den Pflegeheimen
Zweierteams: eine Friseurin und eine Auszubildende,
die sich mit der Rollstuhltechnik, mit dem aufblasbaren
Waschbecken und dem eigens angeschafften
Waschtablett auskennen. „Man muss das wollen und
auch können; viele denken da an ihre eigene Omi“,
erzählt Vollborth. Zusätzlich kommen aus den umliegenden
Wohngegenden Kundinnen und Kunden in die barrierefreien Salons; es gibt immer Parkplätze direkt vor der Tür.

Schon vor Jahren hat Anett Vollborth ein besonderes
Ausbildungskonzept entwickelt. „Die Zeiten, in denen
uns der Nachwuchs die Bude einrennt, sind definitiv
vorbei“, sagt sie. „Auch die mit den Problemen müssen
wir mitnehmen, ernst nehmen. Ich erlebe das
immer wieder, dass denen hier Flügel wachsen.“ Mit
ihrer zupackenden mütterlichen Art setzt sie auf Motivation,
auch für jene Jugendlichen, die mal in Mathe
eine Vier haben oder persönliche Probleme mitbringen.
„Defizite kann man ausgleichen“, ist Vollborth
überzeugt. Neben dem Schneiden, Föhnen, Färben
oder Stecken lernen die jungen Menschen bei ihr,
was Teamgeist bedeutet, wie wichtig Zuverlässigkeit
ist und was es heißt, Verantwortung zu übernehmen
und bei auftretenden Problemen zusammen nach Lösungen
zu suchen, die zur jeweiligen Lebenssituation
passen. Anett Vollborth hilft schon mal bei der Wohnungssuche,
sie hält den Kontakt zur Berufsschule
und organisiert außerhalb der Ladenöffnungszeiten
Lernzirkel.

Es hat ein bisschen gedauert, bis sie verstanden hat,
dass es dabei auch um sie gehen muss, um ihr Leben,
ihre Zufriedenheit. Sich immer nur um die anderen
kümmern reicht nicht, der Laden muss auch etwas
einbringen. „Wenn man nichts ins Säckchen tut, kann
man auch nichts aus dem Säckchen rausgeben“, umreißt
sie scherzhaft ihre Idee eines innovativen Lohnsystems.
Konkret bedeutet es, dass ihre Angestellten
zusätzlich zum Grundgehalt wählen können zwischen
einem Festgehalt, umsatzorientierter Bezahlung oder
einem Stundenlohn. Manch eine Friseurin arbeitet
schneller als die andere, eine zweite ist Spezialistin für zeitaufwendige Hochsteckfrisuren, wieder eine andere
möchte lieber die Laufkundschaft bedienen und anschließend mit ihrem Stundenlohn nach Hause
gehen. „Wir reden drüber, verabreden das und gucken, wie es läuft“,erläutert Anett Vollborth das Prinzip. Wie immer bei
dieser aufgeweckten Frau ist alles neu verhandelbar.

Sie braucht gute Handwerkerinnen, also tut sie was
dafür, dass sie bei ihr anfangen und auch bleiben. „Ich
will den Fisch haben, also werfe ich den richtigen Köder
aus“, sagt sie und lacht schon wieder. Es sieht
ganz so aus, als sei sie damit auf dem richtigen Weg –
für sich, für ihre Azubis und für ihre Angestellten.

Bilder sind Rechtlich Geschützt. - Michael Reichel/arifoto.de
Texte sind Rechtlich Geschützt. - ZDH Jahrbuch 2022